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Am Morgen des 10. Juli steigen wir um 7.30 in ein Taxi. Auf unserem Ticket für die Fahrt auf dem Amazonas mit der Sao Bartolomeu V von Manaus nach Santarém steht 9 Uhr Abfahrtszeit. Nach der letzten Erfahrung haben wir alle Zeit der Welt. Der Taxifahrer fährt zum Pier, wird aber wieder weggeschickt, das Schiff fährt an anderer Stelle ab. Ein Träger wittert sofort ein Geschäft und fragt nach unserem Fahrschein. Er stutzt und erklärt uns dann, dass das Schiff bereits gestern Abend abgelegt hätte, aber wir könnten mit einem anderen fahren, und das legt mittags um 12 Uhr ab. Auf jeder Schulter einen Koffer läuft er zielstrebig zu dem großen Katamaran (mit dem wir nicht fahren wollten), wir hinterher und damit beginnt unsere Pechsträhne. Wieder und wieder schauen wir uns das Ticket an, da steht eindeutig unter Abfahrt 10.9.2019 – 9 Uhr. In dem blau gedruckten Text links davor entdecken wir dann noch eine 9 mit einem Bindestrich. Wir sind wie betäubt, und können noch immer nicht glauben, was wir da gerade erfahren haben.
Direkt hinter der Gangway des Katamaran sitzt der Zahlmeister, bei dem wir ein neues Ticket für 700 Reales (175,00 €) kaufen. Ob es eine Möglichkeit gibt, das Geld oder einen Teil zurückzubekommen? Verneinung von mehreren Seiten. Direkt neben dem Zahlmeister steht ein junger Mann im maritimen T-Shirt (wir halten ihn für ein Mitglied der Mannschaft) und verfolgt interessiert die Unterhaltung. Noch immer etwas benommen folgen wir dem Gepäckträger mit unserem neuen Ticket aufs Oberdeck bis zu unserer Kabine. Für die schwere Arbeit verlangt er 100 Reales, die er auch ohne weiteres Nachdenken unsererseits bekommt. Kurz darauf erscheint der junge Mann (im maritimen T-Shirt) in unserer Kabine und meint, es gäbe noch eine Chance, einen Teil des Geldes zurück zu bekommen, er will das für uns versuchen. Mit dem Ticket und der Chance verschwindet er, wir sehen ihn nie wieder.
Nach unserem letzten Schiff ist dieses Eisenmonstrum ein Kulturschock. Wir bekommen eine Camarote, eine 2 Meter hohe Kabine mit Doppelstockbett, zwei Stühlen, Klimaanlage aber ohne Bad und Fenster.
Hier gibt es ein Gemeinschaftsbad für sechs Camaroten. . Eine Frau im pinken T-Shirt mit Schiffsemblem kommt und schreibt unsere Essenswünsche auf einen Block. Kurz darauf fragt eine zweite, dann eine dritte, danach höre ich auf zu zählen. Mindestens zehn Frauen – alle im gleichen Shirt – laufen mit ihren Blocks herum und schreiben Bestellungen auf. Wir glauben noch immer, dass sie zur Schiffsbesatzung gehören, bis wir sie unten bei den vielen Garküchen auf dem Ablegesteg herumlaufen sehen. Auf diesem Schiff ist die Verpflegung n i c h t inklusive. Alle erfahrenen Reisenden bestellen sich noch mindestens eine Mahlzeit, das Essen auf dem Schiff ist teurer. Kurze Zeit später schleppen die Frauen das bestellte Essen in großen Taschen herbei und kassieren ab.
Auf dem Schiff, das bestimmt viermal so viele Passagiere fasst, wie das letzte, ist ein unglaubliches Gedränge. Bei den Hängematten geht es drunter und drüber. Die hängen so dicht, dass die Menschen Hüfte an Hüfte liegen. Ich muss an diese in Reihe hängenden Kugeln denken, bei denen man die erste anstößt, und die letzte dann ausschwingt. So stelle ich mir hier das Schlafen vor.
Die Zeit, bis das Schiff ablegt, stehen wir an der Reling und schauen zu, was unten passiert. Da werden noch alle möglichen Waren eingeladen, um das Schiff tauchen immer wieder Delfine auf, und um 12 Uhr werden die ersten Leinen gelöst. Rufend und winkend kommt ein Mann angelaufen. Ein Auto – ein großer Pick-up soll noch mit. Zwei Bretter werden heraus geschoben, aber dann muss im Laderaum erstmal Platz geschaffen werden. Die Insassen – ein Paar um die sechzig – unterhält sich temperamentvoll neben dem Auto.
Plötzlich dreht sich die Frau um und stapft energisch davon. Das Auto wird aufs Schiff gefahren, der Mann läuft auf und ab, noch immer ist die Frau nicht zurück, und nun hilft alles nichts: Das Auto ist auf dem Schiff, die Frau weg. Dem Mann ist die Zerrissenheit deutlich anzusehen. Zweimal wurde schon die Sirene betätigt, dann geht der Mann zögernd an Bord. Das Auto hat den Sieg davongetragen. Wir alle warten gespannt, ob noch ein schnelles Boot hinterher kommt und die Frau zum Schiff bringt – nein, sie hat sich für Manaus entschieden.
Die Fahrt auf dem Amazonas, diesem unfassbar großen breiten Wasserweg hat etwas meditatives. Wir stehen an Deck und schauen, sehen Ufer, Inseln und andere Schiffe an uns vorbeigleiten, gehen aufs Oberdeck, wo uns der Fahrtwind um die Ohren weht und schlafen in dieser Nacht tief und fest, obwohl es überall knirscht, quietscht, klopft und dröhnt.
Wir lernen Friederike kennen, außer uns die einzige Deutsche an Bord. Sie lebt schon seit 7 Jahren in Liberia und arbeitet in der Entwicklungshilfe. Eine bemerkenswerte junge Frau, deren Erzählungen wir nur zu gerne lauschen. Von ihr erfahren wir, dass dieses Schiff weiterfährt nach Belém, wo wir ja auch hinwollen. Wir versuchen gleich, unser Ticket aufzustocken, werden aber von dem einzigen englisch sprechenden Mitarbeiter an Bord vertröstet bis nach unserer Ankunft in Santarém.
Bei einem Halt am nächsten Vormittag ein herrliches Schauspiel, eine Gruppe Männer und Frauen „bewaffnet“ mit mehrere Meter langen Stöcken und großen Taschen stürmt auf den Anlegesteg. Sie bringen Verpflegung, dürfen aber das Schiff nicht betreten. Rufe schallen hin und her, dann wird ein Beutel an die Stange gehängt und damit das Essen nach oben gereicht. Das Geld kommt in die abgeschnitten Plastikflasche, die oben auf der Stange steckt. Auf demselben Weg kommt das Wechselgeld zurück. An die hundert Portionen landen so bei den Passagieren.
Abends erreichen wir Santarém und hier verlassen die meisten Passagiere das Schiff. Am Ufer warten bereits Polizisten und kontrollieren deren Gepäck. Gegenüber liegt bereits die Sao Bartolomeu V, die aber nicht bis Belém weiterfährt, sondern von hier aus wieder zurück nach Manaus. Wir warten noch immer auf die Auskunft, ob wir weiterfahren können. Zuerst will der Zahlmeister den vollen Betrag für die nächste Etappe, lässt sich dann aber um 200 auf 500 Reales herunterhandeln. Das Schiff bleibt über Nacht hier liegen, und wir gehen in eine Hafenkneipe, um etwas zu essen. Bei der Rückkehr müssen wir einem Wachmann unser Ticket zeigen. Nur in Manaus kann Hinz und Kunz aufs Schiff, alle anderen Häfen werden genau kontrolliert.
Die Passagiere vom Oberdeck, die jetzt noch an Bord sind, kennen wir inzwischen vom Sehen, und einige versuchen auch, mit uns in Kontakt zu kommen.
Eine von denen ist Aglai (gesprochen mit 3 i am Ende), eine runde, stets lachende und redende Brasilianerin. Mit Gesten und ein paar Brocken englisch unterhalten wir uns. Wir sind uns sympathisch, ohne groß miteinander reden zu können.
Als es gerade hell wird, sehe ich von der Reling aus, wie Bananenstauden von zwei LKW in den Bauch der Sao Bartolomeu wandern. Kaum sind die verstaut, kommen zwei mit Kästen voller Orangen beladene. Die Wassermelonen vom nächsten Wagen werden stückweise von Mann zu Mann geworfen.
Auch für unser Schiff stehen Waren bereit, etliche große Styropor-Kästen voller Fische auf Eis müssen an Bord. Die beiden Männer müssen unglaublich schleppen, ein dritter steht dabei und passt auf, dass sie auch alles richtig machen. Ab 10 Uhr kommt ein neuer Schwung Passagiere aufs Schiff und die Lücken zwischen den Hängematten sind schnell wieder geschlossen.
Nachmittags um 15 Uhr legen wir in Monte Alegre an. Hier steht eine lange und breite Mauer aus Obstkisten, die alle in den Laderaum sollen. Zwei Stunden soll das hier dauern, aber nach 3 Stunden werden noch immer neue Kisten herangekarrt. Wir machen gemeinsam mit Friederike einen Landgang und kaufen Obst und Wasser ein. Erst um 20 Uhr legen wir wieder ab.
Nach einem Halt am nächsten Morgen verfolgt uns ein schnelles kleines Boot. Die Passagiere – drei junge Männer – haben wohl nicht erwartet, dass die 30 Minuten Anlegedauer wirklich eingehalten werden und mussten fassungslos mit ansehen, wie der Katamaran mit ihrem ganzen Gepäck sich bereits in voller Fahrt mitten im Fluss befand. Ein paar Stunden später biegt das Schiff in einen Seitenarm ein. Sofort setzten sich am Ufer kleine Boote in Bewegung und paddeln auf uns zu.
Kinder sitzen in den Booten, mal allein, mal mit einem Erwachsenen und unsere Passagiere werfen Plastiktüten mit Leckereien über Bord, die von den Insassen der kleinen Boote eingesammelt werden. „Das machen die nicht, weil sie arm sind,“ erklärt uns ein Brasilianer, „das ist Kinderbelustigung.“ Den Menschen hier geht es finanziell gut, sie leben vom Verkauf der Acai-Beeren und vom Fischfang.
Einer kommt mit seinem Motorboot, macht hinten an unserem Schiff fest und verkauft Shrimps, roh oder bereits gekocht.
Auch der nächste Ort macht einen wohlhabenden Eindruck, auf mehreren Plätzen lagern große Stapel Tropenholz und warten auf die Verschiffung. Stege sind zwischen den einzelnen Häusern angelegt und mehrere Hausbesitzer haben sich noch luftige Freisitze über dem Wasser gebaut.
Früh am Sonntag Morgen erreichen wir Belém.
Ende unserer Amazonas-Reise, die so schön begonnen hat und zwischenzeitlich getrübt wurde. Aber trotz allem, es war ein wunderbares Erlebnis, das möchten wir am liebsten gleich noch einmal machen.
Belém gefällt uns schon auf den ersten Blick so viel besser, als Manaus. Vermutlich liegt es daran, dass die Straßen von riesigen Mangobäumen eingerahmt sind. Obwohl die letzten Früchte noch an den Bäumen hängen, stehen sie schon wieder in voller Blüte.
Unser kleines Hotel hat einen verständnisvollen Mitarbeiter. Wir bekommen ein Frühstück serviert und dürfen auch sofort in unser Zimmer, ein wenig Schlaf nachholen. Nachmittags wollen wir ins Goeldi-Museum. Es liegt in einem von Mauern umgebenen Parkt und kann dieses Jahr sein 150-jähriges Bestehen feiern.
Der Eintritt ist frei, aber das Museum ist wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Im Park – einer Kombination aus botanischem und zoologischen Garten – lässt sich die Hitze gut ertragen. Wir sehen die großblättrigen Seerosen, die einen Menschen tragen können, einen Riesenotter, zwei Jaguare, zwei Tapire, Schildkröten, Krokodile, Vögel und viele freilaufende Agutis. Die Manatis und Anacondas wurden für die Dauer der Renovierung ausquartiert.
Am Montag sind Museen und das Fort geschlossen, so bummeln wir durch die Altstadt, laufen am Ufer zwischen unzähligen Verkaufsständen über den Ver-o-Peso- Markt. Der Name bedeutet: nach Gewicht, denn danach wurden früher die Steuern berechnet, die an die portugiesische Krone zu entrichten waren. Hier gibt es alle Arten von Lebensmitteln. Zusätzlich zur bunten Zuckerwatte macht Popcorn in allen Farben des Regenbogens diese farbenfrohe Welt noch ein wenig bunter. Wir kaufen eine Tüte mit frischen geschälten Paranüssen, die hier so kurz nach der Ernte noch im Geschmack der Kokosnuss ähneln. Ob Die Nüsse nach dem Bundesstaat Para heißen, oder ob es umgekehrt ist, kann mir niemand sagen. In der von vier Türmchen geschmückten alten Markthalle wird der Fang des Tages verkauft, und direkt dahinter dümpeln jetzt die Fischerboote.
Am anderen Ende des Hafens liegen Unmengen von Beeren zwischen dem Kopfsteinpflaster. Es sind Acai-Beeren, die vermutlich beim Verladen aus undichten Säcken gefallen sind.
Der Hafen hat Belém zu einer wohlhabenden Stadt gemacht. Sämtliche Waren aus der Amazonas-Region gehen von hier in alle Welt. Erst langsam entsinnt man sich hier offenbar der schönen Gebäude, von denen die meisten bis jetzt dem Verfall preisgegeben sind. Es würde schon helfen, wenn die Sprayer statt Schmierereien Street-Art auf die vielen gammeligen Mauern zaubern könnten. Doch es gibt dazwischen immer wieder Geschäfte, deren Angebot den besten Läden in Europa oder Nordamerika in nichts nachsteht. Der eigentlich hübsche Park am Hafen mit trocken gefallenen Teichen und Wasserläufen verrottet und ist mittlerweile zu einem Schlaf- und Aufenthaltsplatz für Obdachlose geworden. Nur bei Tag trauen sich die Einwohner von Belém noch hierher.
Bürgersteige bieten eine wilde Mischung aus Marmorpflaster, Sand- und Betonflächen und metertiefen Löchern, dazwischen verwest schon mal eine Ratte. Doch die Menschen sind fröhlich, hilfsbereit und überaus gastfreundlich und das ist schließlich für Besucher das Wichtigste.